Gaukelspiel

Lektüre: "Klein Zaches genannt Zinnober" (1819) von E.T.A. Hoffmann

Es wäre interessant, einmal zu zählen, ob es eine andere Figur in der deutschsprachigen Literatur gibt, über die eine größere Menge negativer Bezeichnungen ausgeschüttet wurde, als über den kleinen Zaches, „die verwahrloste Mißgeburt eines armen Bauernweibes“, ein „abscheulich garstiger Junge“, ein „unartiger Däumling“, ein „trostloses Elend“, eine „unselige Mißgeburt“, ein „Spezialmännlein“, ein „kleiner Maikäfer“, ein „Cartesianisches Teufelchen“, ein „verwachsener Kerl“, ein „Erdwurm“, ein „schnöder, häßlicher Wurzelmann“, der nicht einmal die höheren Weihen der Menschenaffenähnlichkeit so richtig verdient, sondern nur wie ein „kleiner geputzter Pavian“ sich über sein Schicksal, das eines „Wechselbalgs“, „einem Rettich gar nicht unähnlich“, „anzusehen wie ein auf eine Gabel gespießter Apfel, dem man ein Fratzengesicht eingeschnitten“, für eine Weile erhebt.

Der kleine Zaches gerät an eine Fee, und die verleiht ihm eine „geheimnisvolle Gabe“, „vermöge der (er) überhaupt allemal für den vollkommensten der Gattung, mit der er in Konflikt, gelten muß“. Ein Überschätzungseffekt. Damit sorgt er für eine Weile in einer deutschen Kleinstadt, die von Feen und aufgeklärten Zauberern wie einem Herrn Prosper Albanus bevölkert wird, für eine Sensation. Es kommt schließlich sogar so weit, dass man ihm einen Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen verleiht, denn „gerade zwanzig Knöpfe erforderte die wunderliche Form seines Körpers“. Als Zinnober wird Zaches auch zu einer gefährlichen Konkurrenz für Balthasar, den eigentlichen (langweiligen) Helden der Geschichte, der mit einer Candida glücklich werden möchte, die sich aber auch vom dem „Gaukelspiel“ in den Bann ziehen lässt, und beinahe den Falschen heiratet.

Was hatte Hoffmann mit dem Zinnober vor? Dass sich die Gesellschaft leicht blenden lässt, scheint ihm nicht besonders wichtig, es geht also nicht wirklich um eine Parvenü-Satire. Eher schon scheint ihn generell das märchenhafte Spiel zu interessieren, das höher Begabte mit den Menschenwesen anstellen, die sich redlich bemühen, die Aufklärung einzuführen („die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimming absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen“, so die dazugehörige To-do-Liste). Im Grunde aber benützt er die Figur mit dem Handicap, um auf ihre Kosten ein durchaus philiströses Happyend für einen Professoren-Schwiegersohn durchzusetzen, dem sogar die Gattin noch mit einem magischen Effekt passend gemacht wird (ein Halsschmuck sorgt dafür, dass sie auch einmal einen hässlichen Fleck gerade sein lassen kann). Heute müsste man mit Blick auf Zaches eigentlich von Ableismus sprechen.

Die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Hildebrandt hat 1997 in einem Aufsatz für das Hoffmann-Jahrbuch die Perspektive umgedreht und aus dem Text eine Art Biografie von Zaches rekonstruiert: sie erkennt eine Karikatur des „geckenhaften Beamten“, und denkt an Grillparzers Der arme Spielmann, in der die Figur Jakob bei einer Lateinprüfung das Wort cachinnum nicht übersetzen kann - es steht für schallendes Gelächter, also den Hohn, den er sich auch durch sein Nichtwissen einhandelt. Hildebrandt versucht, einer Figur, die auch im Text über „zu wenig eigene Existenz“ verfügt, ein wenig mehr Profil zu geben. Ein unerwünschtes Kind einer Mutter, die nicht genug zu essen (zu bieten) hat, ein in Wachstum und Sprache zurückgebliebenes Kind, ein Kind mit „psychischer Deprivation“ und in der Folge einer „psychosozialen Wachstumsschwäche“. Klein Zaches hat schlechte Voraussetzungen für die Welt, in der sich Balthasar bewegt, und als er durch den letztlich fiesen Zauber die Gelegenheit bekommt, sich dort bemerkbar zu machen, tappt er erst recht in die Falle: „sein Anpassungsverhalten in der bürgerlichen Gesellschaft macht ihn zu einer lächerlichen Karikatur“. Seine Aufstiegsbiografie ist bloß eine Belustigung. Sein Erfolgspseudonym ist denn auch von vornherein vergiftet: Zinnober ist Quecksilbersulfid.

Im sowjetischen Raum war das Märchen von E.T.A. Hoffmann interessanterweise sehr geläufig, sodass im Januar 2000 (Russland hatte gerade einen neuen Präsidenten bekommen: Vladimir Putin) eine Satireshow darauf Bezug nehmen konnte: in Kroška Caches steht der kleine Zaches eben für einen Politiker, von dem die Satiriker der Sendung Kukly schon damals deutlich machten, dass sie ihn für eine Blender hielten, oder für jemand, von dem ein (endlicher) Effekt ausging, der auf einen Betrug hinausläuft.

In jungen Jahren war ich mächtig beeindruckt, als Rüdiger Safranski in seiner Hoffmann-Biografie das Konzept der Polymythie von Odo Marquard ins Treffen führte. Heute sehe ich in dem Umstand, dass durch die merkwürdigen Rezeptionswege des 20. Jahrhunderts hindurch ein romantisches Märchen aus Deutschland gleichsam an der Wiege der Regimekritik gegen Putin stehen konnte, ein Indiz für eine Verschlungenheit von Wahrem und Falschem in allen Dingen, der man mit der polymythischen Heiterkeit von Marquard nicht beikommt. Eher schon mit den Abgründen, die Hoffmanns Text selbst enthält.

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