Verabredung mit Gott in Kanaan

Lektüre: "Abraham oder Der fünfte Bund" von Boualem Sansal

Auf den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal wurde ich zum ersten Mal 2011 aufmerksam, damals las ich Das Dorf der Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller, in dem ein Schlüssel zum 20. Jahrhundert und zum Postkolonialismus enthalten ist: die Shoah, der nordafrikanische, antikoloniale Befreiungskampf, der moderne Islamismus hängen in einer keineswegs gewagten erzählerischen Konstruktion zusammen.

Als Sansal nun einen Roman über Abraham herausbrachte, war ich sofort dabei, denn ich lese schon seit einiger Zeit wieder viel über die Frühgeschichte der drei Buchreligionen. Und die Figur Abraham beschäftigt die Welt nach wie vor, zuletzt spielte ein zentraler Text über ihn eine wichtige Rolle in Omri Boehms Buch Radikaler Universalismus. Sansal erzählt davon, dass ein Abraham (beziehungsweise Abram oder Brahim) zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Gedanken verfällt, er wäre berufen, den Weg des biblischen Abraham nachzugehen: mit seinem Klan, der aus Tell al-Muqayyar stammt, der alten Stadt Ur in Chaldäa. In der Genesis wird die Geschichte von Abraham erzählt, dem Gott eine große Nachkommenschaft verspricht, und ein Land: Kanaan. Er kommt dort auch hin, allerdings auf einem großem Umweg, der ihn einmal durch Mesopotamien auf das Gebiet der heutigen Türkei und dann wieder südwärts bis nach Hebron und damit auf das Gebiet von Palästina führt. Das Ziel (oder der Auftrag) nun: «Abrahams Epopöe zu erneuern» oder zu aktualisieren. Einen fünften Bund zu stiften, nach den vier bisherigen durch Abraham, Moses, Jesus und Mohammed. Der fünfte Bund könnte der letzte sein, ein Bund «an der Schwelle zur Wahrheit». Ein Bund, der nicht mehr in einem heiligen Text grundgelegt ist, sondern in einem literarischen (der wiederum, wie es sich in solchen Fällen gehört, auf dem mirakulösen Fund eines alt-aramäischen Manuskripts beruht).

«Unsere prophetische Suche ist Teil dieser Emanzipationsbewegung, die von den Europäern als Aufklärung und von den Arabern als Nahda bezeichnet wird.» Mit diesem Satz legt Sansal alles offen. Und er untergräbt zugleich ein Klischee, dass nämlich die Aufklärung zu Europa gehört, während der Orient dafür nicht reif ist. So wurde es zumindest implizit auch als Legitimation für den Kolonialismus in der Levante gedacht. «Das ungestüme Europa zog in unseren morschen Orient ein, um ihn neu zu gestalten», heißt es bei Sansal.

Bei ihm beginnt der Weg der Abraham-Goßfamilie («friedliche Wandertierhalter») mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, und er führt pointiert an den historischen Punkt, an dem unser geopolitische Gegenwart einen entscheidenden Beginn hatte: den Moment, in dem die Vereinten Nationen 1947 einen Teilungsplan für Palästina vorlegten. Nun wird endgültig deutlich, dass Sansals Abraham mit seiner «tiefen Identität» (also mit seiner starken Verwurzelung in den Geschichten der Region) für einen Bund steht, der gegen territoriale Lösungen ein utopisches Vorher hochhält: «All das war ein einziges Gebiet, ein einziges Volk, abwechselnd kanaanäisch, hebräisch, assyrisch, ägyptisch, römisch, arabisch, osmanisch, es konnte es in seiner föderalen, laizistischen Form bleiben.» Dieser Abraham könnte ein «Gandhi der Araber» sein, er hat einen großen Traum: «den Nahen Osten in einer großen, freien, multikonfessionellen, jüdischen, christlichen und muslimischen Föderation vereinen».

Es ist das Recht der Literatur, sich etwas auszudenken, das den scheinbaren Zwang der Gegebenheiten hinter sich lässt. Sansal aber geht noch ein wenig weiter, denn er lässt am Ende seines Romans das gesamte erste Buch der jüdischen Bibel abdrucken: die Genesis als heiliger Text ist bei ihm Teil des literarischen Texts. Ein Akt der kulturellen Aneignung in der äußersten Form, denn er überholt die drei Buchreligionen durch eine neue Buchreligion, zu deren Anhängern ich mich auch zählen möchte.

Boualem Sansal: Abraham oder Der fünfte Bund, Merlin Verlag

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