Schildkröte und Pfau

Lektüre: "Und immer wieder aufbrechen" von Sisonke Msimang

Dieses Buch hat mich interessiert, weil ich nach Incognegro von Frank Wilderson mehr zu Südafrika wissen wollte (wo ich 2002 einmal sehr kurz, aber unvergesslich, auf einer Reisereise für die FAS war). Sisonke Msimangs Memoiren erzählen ebenfalls von den Jahren der Überwindung der Apartheid und von der Freiheit in Südafrika, wie bei Wilderson sind diese Passagen eingebettet in eine längere Lebensgeschichte. Wilderson kam eher zufällig aus Amerika nach Südafrika und gehörte in den 90er Jahren zum revolutionären Flügel des ANC (African National Congress). Msimang wuchs als Tochter eines hochrangigen ANC-Kaders im Exil auf, in Lusaka, der Haupstadt von Sambia, „in seiner panafrikanischen Pracht“ unter dem Schutz des legendären Präsidenten Kenneth Kaunda.

Sie begreift, dass sie in eine Welt hineingeboren wurde, die „besessen von Jungs“ ist (also von der Priorität männlicher Nachkommen), erlebt aber die eigene Kindheit mit zwei Schwestern als behütet. Sogar eine Missbrauchserfahrung (der Hausdiener Praisegod versucht, sie zu vergewaltigen) kann sie verarbeiten: „Ich war ein widerstandsfähiges Opfer. ... Selbst in meinem ängstlichen Schweigen glaube ich an die Kraft meiner eigenen Knochen.“ Dennoch zieht sie einen verallgemeinernden Schluss aus ihren Erfahrungen und Beobachtungen in der Kindheit: „Geschlechterverhältnisse lassen den Missbrauch wie eine natürliche Verlängerung des männlichen Körpers erscheinen.“

Die Familie zieht oft um, zuerst nach Kenia, später nach Kanada, danach wieder nach Kenia, immer wieder muss Sonke, wie sie genannt wird, weggehen, „wenn gerade Zugehörigkeit entsteht“. In Kanada macht sie erste Erfahrungen mit Rassismus, sie muss lernen, als Schildkröte zu leben (mit eingezogenem Kopf) und nicht als Pfau. Bei der Rückkehr nach Kenia bringt sie aus Kanada ein Fahrrad mit, das ihr ein junger Mann zu rauben versucht: die Begebenheit wird sehr ausführlich erzählt und gibt Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen. Denn Msimang begreift, dass die panafrikanische Pracht der Entkolonialisierung, die sie in Sambia erlebt hatte, im Alltag nicht hält. „Solidarität war in Kenia nicht zu finden“, der Angreifer, der ihr Fahrrad wollte, steht ihr fundamental gegenüber: „Ich kann nichts gegen diesen Hass machen, denn er ist berechtigt. ... Menschen wie mir gehört die Welt.“ Das Delikt ist Symptom einer Zufallslogik, die auch unter Schwarzen in Afrika zu Wohlstandsverteilungen führt, die eigentlich nur in die Katastrophe führen können.

Das Erlebnis in Kenia nimmt vorweg, was sich später im freien Südafrika verschärfen wird. Doch zuvor muss Sonke ihre Position als „Mittelpunkt des Universums“ (in der Familie) aufgeben. Sie geht allein zum Studieren nach Amerika, erlebt dort eine große, aber unhaltbare Liebesgeschichte mit einem bipolaren Mann namens Jason („er hat mir beigebracht, dass Liebe nicht ausreicht“). In Minnesota begreift sie erneut oder erstmals richtig: „Ich bin vor allem eins: Schwarz.“

Der Song Black President von Brenda Fassie wird für sie dann zur Hymne des großen Übergangs: Vom 27. April 1994 an ist Freiheit für Südafrika keine Parole für die Zukunft mehr, sondern politische Gegenwart, und dieser Zeit widmet Msimang das ganze letzte Drittel ihres Buchs. Sie erinnert an Chris Hani, einen ANC-Marxisten, der auch bei Wilderson eine wichtige Rolle spielt, für sie „Uncle Chris“, denn ihr Vater und Hani „waren zusammen in den Lagern“ (die Übersetzung von camps ist korrekt, allerdings ist der Begriff auch schon im Original ein wenig missverständlich, er bezieht sich auf Ausbildungslager des ANC, hat aber sowohl im Englischen wie im Deutschen eine spontane andere Konnotation, nämlich Straf- oder Vernichtungslager).

Hanis Analysen machten es ihm „unmöglich race über Klasse zu stellen“ (race not over class) – eine Konstellation, die in heutigen Identitätspolitiken als Herausforderung weiterhin gegeben ist. Msimang berichtet von der großen Enttäuschung, die sie mit dem freien Südafrika erlebt – mit dem Präsidenten Mbeki, der vor der Aids-Katastrophe versagt, mit der allgegenwärtigen Gewalt, vor der sie schließlich im Grunde kapituliert, um ihr Privilegiertsein (als Intellektuelle, bald auch als Frau eines weißen Australiers, als Mutter zweier Kinder) zu retten. Beobachtungen über die brutalen Unterschiede zwischen Msimang und ihren Bediensteten, über das Leben in einem „weißen“ Viertel, zählen zu den stärksten Passagen des Buches. „Unsere Träume haben uns betrogen“, lautet ihr Fazit. Heute lebt sie in Perth in Australien. Dass sie nach diesem Buch eine Biografie über Winnie Mandela geschrieben hat, eine Ehrenrettung, wenn ich richtig sehe, für eine Frau mit sehr schlechter Nachrede, macht mich weiter neugierig.

Sisonke Msimang: Immer wieder aufbrechen. Aus dem Englischen von Tatjana Kruse. Haymon Verlag 2021

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