Blickwechsel

Lektüre: "Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis" von Charlotte Wiedemann

Bei den erinnerungspolitische Debatten der letzten Jahre frage ich mich manchmal (naiv), wo eigentlich das Problem liegt. Ja, es erscheint mir unbestreitbar, dass in Deutschland und Österreich der Stellenwert der Shoah als geschichtspolitische Aufgabe, aber auch für das persönliche Gedenken erstrangig ist. Und, ja, es erscheint mir ebenso unbestreitbar, dass ich mir als Mitteleuropäer, als Inhaber eines EU-Passes, darüber Rechenschaft gebe, wie ich in diese Position gekommen bin. Und da bin ich dann ganz schnell bei Gewaltgeschichten, in denen der europäisch-nordamerikanische Reichtum seine Bedingung hat, bei Kolonialismus, Versklavung, Landraub und Umweltzerstörung. Konkret läuft die Abwägung zwischen diesen Erinnerungsansprüchen oft einfach darauf hinaus, dass ich ein bestimmtes Buch vor einem anderen lese, mich also über eine Sache genauer informiere, während manches andere im Hintergrund meines dann diesbezüglich vagen Wissens bleiben muss.

Nun habe ich ein Buch gelesen, das ich fast wie einen Wegweiser in diesem ständigen Prozess einer Vertiefung des Verständnisses historischer Zusammenhänge und ihrer moralischen Implikationen empfehlen würde: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis von Charlotte Wiedemann. Die Autorin ist zuerst einmal Reporterin, sie verweist auch ausdrücklich auf „Jahrzehnte außereuropäischer Welterfahrung“ als einen wesentlichen Aspekt ihrer Position. Das Buch ist aber theoretisch und historiographisch nicht unbedarft, im Gegenteil gefällt mir gerade, wie hier das Nachdenken mit dem Erzählen verwoben wird, wie das Aufsuchen von Orten und von Texten ineinander greift, wie Reflexion sich mit Beobachtung verbindet.

Das Weltgedächtnis, das es nicht gibt, wird hier schrittweise und in Ansätzen eingeholt: mit dem Hinweis auf afrikanische Soldaten, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, und danach aus dem öffentliches Gedächtnis getilgt wurden („der Sieg sollte weiß sein“), steigt Wiedemann ein, es folgt ein Kapitel über Nürnberg und die Grenzen des Universalismus, in dem es darum geht, dass Mächte, die nach dem Krieg die Allgemeinen Menschenrechte erklärten (und in Nürnberg Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelten), zugleich in Malaya (England), Indonesien (Niederlande) und Algerien (Frankreich) „einen großen Teil der Menschheit von der Universalität der Rechte begründungslos“ ausschlossen. Wiedemann erzählt aus dem deutschen Stukenbrok, wie nach dem Krieg das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen (die zweitgrößte Opfergruppe des Nationalsozialismus) in mühseliger Kleinarbeit erinnerbar gemacht wurde, sie trifft im Baltikum auf eine komplexe Konstellation, in der die Sowjet-Verbrechen die der Nazis immer wieder überschatten, sie macht sich in Treblinka Gedanken über die „Einzigartigkeit“ der Shoah, und sie macht auf eine Opferdiskriminierung aufmerksam, an die ich oft auf dem Weg ins Haus der Kulturen der Welt in Berlin flüchtig denke, wenn ich an Dani Karavans von der Stadtverwaltung ruiniertem Mahnmal vorbeifahre. Ein Ort für „die gänzlich Unvermissten. Pojramos - wir kennen kaum das Wort, mit dem Roma und Sinti in Romanes den Tod, «das Verschlingen» ihrer Vorfahren bezeichnen. Verschlungen wurde bis zu einer halbe Million Menschen, oft an denselben Orten – Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Majdanek - die in der Erinnerung als Stätten der Shoah eingetragen sind.“ Die Opferkonkurrenz ist tatsächlich enorm, aber Wiedemann weist einen Weg in eine Richtung, in der sich „Begriffe wie Peripherie und Zentrum einmal auflösen, wenn es um die Lehren aus den großen Fehltritten der Menschheit geht“.

Das Kapitel, das mich aus verschiedenen Gründen besonders interessiert hat, brachte mir auch die meisten neuen Aufschlüsse, denn über den Aufstand in Tansania gegen die Deutschen wusste ich gar nichts: „Maji-Maji war auf dem afrikanischen Kontinent der erste große Kampf um Befreiung, und in Tansania wurde daraus ein nationales Epos. Manche sehen darin den Ursprung des modernen Staates, denn es schlossen sich damals zahlreiche Gemeinschaften über ethnische Grenzen hinweg zusammen.“ Tansania ist eines der Länder, auf das Pasolini in seinen Appunti per una orestiade africana seine Hoffnungen setzte, ich wollte immer schon einmal dazu Näheres in Erfahrung bringen. Nun habe ich bei Wiedemann von dem Historiker Gilbert Gwassa erfahren, der auf der Leseliste weit nach oben gerückt ist.

„Alle Erinnerungen der Erde, ohne jegliche Diskriminierung, sind für den Aufbau einer gemeinsamen Welt unerlässlich; alle haben das gleiche Recht auf Anerkennung und Erzählung.“ Das schrieben im Mai 2020 afrikanische Intellektuelle in einem zum Teil hämisch aufgenommenen Brief an die deutsche Bundesregierung, nachdem Achille Mbembe Antisemitismus vorgeworfen worden war. Heute sehen wir, dass die damalige Debatte sich dieses Jahr bei der documenta im Grunde wiederholt hat. Und wieder ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein legitimes Eintreten gegen Antisemitismus sich in manchen Beiträgen mit einem doch eklatanten Mangel an Verständnis für postkoloniale Diskurse verbindet, wo nicht mit einer echten Geringschätzung ihnen gegenüber.

Charlotte Wiedemann merkt zum Ende ihres Buches hin noch an, „wie billig die Deutschen insgesamt davongekommen sind ... Unsere privilegierte Lebensweise heute resultiert in älterer Hinsicht aus kolonialen Weltverhältnissen und in jüngerer Zeit aus geopolitischen Prioritäten nach 1945.“ Ihr Buch schlägt einen ständigen „Blickwechsel“ vor, mit dem sich das Erinnern (und die Empathie) immer wieder neu konfiguriert. Ich finde, man kann sich dieser Bewegung gut anvertrauen, und wird viele Anregungen finden für eine intellektuell wie moralisch redliche, nicht naive Verortung der eigenen Position in den Zusammenhängen der Geschichte, der wir (das deutschsprachige Lesepublikum nehme ich hier einfach einmal als Zielgruppe und ansprechbare demokratische Teilmenge) entstammen.

Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Propyläen 2022

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